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Tanz der Wasserläufer

 

Ein dumpfes Grollen...


Hastig stieg Julie...


Julie lief...


Sie baten um eine Unterredung...


Eine Gestalt warf ihren Schatten...

Ein dumpfes Grollen begleitete die Ankunft des Reittrupps vor dem roten Backsteinschloss. Der Mann, der als erster aus dem Sattel gesprungen war, sah hoch.
Bleigraue Wolkentürme wälzten sich ihnen entgegen. Am Horizont hing bereits ein dichter Regenschleier über dem Wald. Der Mann hob kurz seinen Hut und wischte sich den Schweiß vom blonden Haaransatz. Er machte den anderen Männern Zeichen, ebenfalls abzusitzen. Einer von ihnen, ein Rothaariger mit Pockennarben im Gesicht, war seinem Blick gefolgt.
„Der Regen wird den Brand löschen, Mylord!“
„Egal. Viel war sowieso nicht mehr in der Hütte.“
„Nein. Die Männer haben gründlich gearbeitet!“, grinste der Rotschopf. Er deutete auf das rote Backsteinschloss: „Und was wollen wir hier? Ist ein bisschen groß, aber ich könnte noch ein paar Leute auftreiben, die...“
„Hier wird nichts angerührt!“ Der erste Mann fixierte seinen Begleiter. „Wenn ich merke, dass einer deiner Leute etwas mitgehen lässt, knüpfe ich ihn eigenhändig am nächsten Baum auf! Ist das klar?“
Ein Blitz tauchte das Schloss für den Bruchteil einer Sekunde in grelles Licht.
„Schon gut, Mylord. Klar doch. Ich dachte nur, weil wir eben...“
„Jetzt komm. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
Kurz darauf drangen die acht Männer in das Schloss ein.
Zwei Hausangestellte blieben bei ihrem Anblick wie versteinert stehen. Eine dritte flüchtete.
„Kann eine von euch lesen?“, rief der blonde Mann ihnen zu.
Die beiden Hausmädchen kneteten ihre Schürzen und schüttelten stumm den Kopf.
„Ich kann es!“, erklang es von hinten. Ein Mann erschien. Er hielt eine Pistole auf die Männer gerichtet. „Was wollen Sie?“
„Ich kenne dich... Du bist der Butler, nicht wahr?“
Der Mann mit der Pistole runzelte die Stirn und trat näher.
„Sie, Mylord? Meine Herrin ist vor zwei Stunden abgereist. Ich verstehe nicht...“
„Lies!“ Ein grüner Stein funkelte an der Hand des blonden Mannes, als er ihm ein Papier entgegenhielt. Der Butler beugte sich darüber. Ehrfurcht trat in seinen Blick. Er ließ die Waffe sinken.
„Wo ist das Kind?“
„Das Kind, Mylord?“
„Deine Herrin hat es doch hier gelassen, oder? Ist es oben in seinem Zimmer?“
„Ja...“
„Gut.“ Der Mann drehte sich um. „Einer von euch begleitet mich. Die anderen bleiben hier und warten, bis wir wieder unten sind.“ Er eilte davon.
Im ersten Stockwerk schlug er zielsicher den Weg nach rechts ein und stieß eine Tür auf.
Er blieb kurz stehen, als er die Wiege erblickte. Ein Lächeln huschte über seine Lippen.
Mit wenigen Schritten stand er vor ihr.
Er schob den Schleier beiseite, der über dem Korb hing.
Dann griff er hinein.

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Hastig stieg Julie in das grüne Wasser. Die Wasserläufer flohen auseinander.
Trotz der immer gegenwärtigen Hitze war der Weiher kalt. Julie tauchte schaudernd unter. Noch einmal, so lang sie konnte. Immer wieder ließ sie sich in die kalte namenlose Welt absinken, tauchte dann wieder auf, um laut nach Luft zu schnappen. Länger. Etwas trieb sie, immer länger unten bleiben zu wollen. Nichts sollte mehr von der letzten Nacht an ihr haften bleiben. Sie schwamm mit weit geöffneten Augen tief in das grüne Herz des Weihers hinein, ihren schnellen Pulsschlag in den Ohren. Sie wirbelte Stürme auf, die die Algen beutelten. Hinter ihr verschluckten Wolken von grauem Schlick das trübe Licht. Ja... so war es gut. Noch ein wenig länger die Luft anhalten, noch eine Sekunde mehr der Welt da oben entkommen... Ihr Herz hämmerte dröhnend. Sie brauchte nur die Lippen zu öffnen, um völlig aufgenommen zu werden... um eins zu werden mit der Frische, dem Reinen, dem Vergessen... Sie fühlte, wie das Wasser in ihren Mund eindrang... dann ein Schluck, und plötzlich der bahnbrechende Wille, die Oberfläche zu erreichen... Zu kämpfen... Zu atmen... Sie schlug um sich, durchbrach den glatten Wasserspiegel, hustete.
Eine Welt von gleißendem Licht und tausend kleinen Geräuschen empfing sie. Wie ein Neugeborenes sog sie keuchend die süße warme Luft ein.
Schwimmen. Sie musste jetzt schwimmen, sich bewegen, alles, was sie noch an Kraft besaß, einsetzen. Und sie schwamm. Rhythmisch, hartnäckig, verbissen.
Sie zerteilte gleichmäßig das Wasser vor sich. Runde um Runde zog sie ihre Kreise. Das Wasser trug, umschloss und liebkoste sie. Es rauschte monoton an ihren Ohren. Ein beruhigendes Geräusch, der Puls des Weihers. Ein Universum in grün und blau. Alles weich, durchdringbar. Nichts Hartes, nichts, woran man sich verletzen konnte. Nichts, wovor man sich in Acht nehmen müsste.
Behutsam löste sich der Knoten, der ihre Empfindungen verschlossenen hielt.
Zunächst gab es da nur einen winzigen, warmen Punkt. Etwas Kleines, Beschützenswertes, wie eine schüchtern vorgetragene Frage. Julie horchte in sich hinein, wohnte abwartend und wie unbeteiligt der Entwicklung bei. Es dauerte nicht lange, und der Punkt schwoll an, gewann an Kraft und Stärke. Er wurde zu einer Flamme: Hell, schön, heiß. Keinerlei Schüchternheit mehr. Sie wuchs an, loderte auf. Es war eine gesunde, alles Kleinliche und Unwürdige verzehrende Wut.
Wut auf ihren Mann, natürlich. Wut auf John, der ein falsches Spiel mit ihr gespielt hatte. Wut auf die ganze Welt, die sie zwang, sich einem Mann unterzuordnen. Und nicht zuletzt auch Wut gegen sich selbst, die nicht fähig gewesen war, ihr diese Erniedrigung zu ersparen.
Die Flamme brannte jetzt ruhiger. Sie verzehrte nicht mehr, sie wärmte nur noch. Eine wohltuende, ermüdende Wärme. Nach und nach wurden ihre Runden langsamer. Ihre Wut hatte ihre letzten Kräfte aufgebraucht.
Julie schleppte sich mühevoll und zufrieden an das Ufer. Sie ließ sich in das weiche Gras fallen. Kaum hatte sie den Boden berührt, schlief sie auch schon ein.

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Julie lief an Racan vorbei. Von ihrem letzten Besuch in der rue de la Platrière wusste sie, wo sich das Schlafzimmer befand. Sie klopfte an die Tür, die nur angelehnt war. Als sie eine kurze Antwort hörte, trat sie ein. Dann blieb sie verlegen stehen.
Der ganze Raum wurde von einem breiten Himmelbett aus dunklem Nussholz beherrscht, dessen blaue Samtvorhänge weit offen standen, um die Wärme des prasselnden Feuers hineinzulassen. Neben dem Bett standen auf einem Hocker ein Wein und ein Wasserkrug mit einem Becher, auf dem Boden türmten sich blutige Verbände.
Auf den Laken lag François auf dem Bauch ausgestreckt und splitternackt.
„Bist du es, Racan? Schön, dass du wieder da bist... Du könntest mir eines deiner ellenlangen Gedichte vortragen. Ist verdammt langweilig, den ganzen Tag auf dem Bauch zu liegen.“
„Racan kommt gleich, Monsieur. Im Augenblick bin nur ich da.“
Bei dem Klang ihrer Stimme zuckte François zusammen. Er versuchte, sich aufzurichten, doch er fiel mit einem Stöhnen wieder auf das Lager zurück.
„Julie... Was in drei Teufels Namen machen Sie denn hier?“, blitzten sie die grauen Augen ärgerlich von unten an. Ihr Herz schlug schneller, doch sie gab sich kühl.
„Guten Tag, Monsieur. Auch ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Wie ich sehe, sind Sie noch fähig, unfreundlich zu sein, das lässt auf einen nicht allzu kritischen Zustand hoffen.“
„Racan! Hast du sie hierher gebracht?“
Der Dichter war mit dem Chirurgen eingetreten und lächelte vergnügt.
„Das brau...brauchte ich nicht. Sie hat sich von g...ganz alleine gebracht.“
François zerrte an seinem Laken und versuchte, sich damit zu bedecken.
„Lassen Sie das, Monsieur,“ meinte Julie milder. „Es gibt nichts, was ich nicht schon gesehen hätte.“ Sie ignorierte Racans verdutztes Gesicht und trat an das Lager.
François Körper war mit großen, grünblauen Flecken übersät, doch das war nebensächlich. Böser sah die rechte Schulter aus, die den schweren Hieb, der eigentlich seinem Kopf gegolten hatte, abgefangen hatte. Sie war stark geschwollen und zeigte einen riesigen Bluterguss. Am bedenklichsten aber war eine Wunde, die genau am Ansatz der rechten Pobacke klaffte. Es war ein großes Loch, mit aufgeworfenen Rändern und von ungesunder Farbe. In seiner Mitte glänzte gelb der Eiter.
Julie verzog den Mund. Sie hatte lange genug während ihrer Klosterzeit Schwester Marie-Madeleine beim Verarzten geholfen, um zu sehen, dass sich diese Wunde entzündet hatte und dringend einer Behandlung bedurfte. Sie sah die Schweißperlen auf François Schläfen und die Blässe unter seiner gebräunten Haut. Sie legte ihre Hand, die noch kalt von draußen war, auf seine heiße Stirn.
„Sie haben hohes Fieber.“
Er schloss kurz die Augen, murrte aber:
„Das wusste ich auch schon.“
Julie ließ sich durch seine schlechte Laune nicht beirren.
„Monsieur Touvenant, kommen Sie her, und schauen Sie sich diese Wunde an...“
Der Chirurg trat näher. Sie beugten sich über François Hinterteil und tauschten ein paar Worte.
„Wie haben Sie sich diese Wunde zugeführt?“, fragte Julie schließlich. „Es ist kein Messerstich!“
Monsieur Touvenant sperrte eine mitgebrachte Tasche auf.
„Mmm... Es war dieser verdammte Ast. Erst bekam ich ihn auf die Schulter, dann bin ich auf ihn gefallen. Immer noch besser als dieser Kerl, der in sein eigenes Messer gestürzt ist.“
„Es ist kein Wunder, dass es sich entzündet hat,“ meinte der Chirurg. „Ein altes Stück Holz, das tage- oder wochenlang in diesem stinkenden Wasser gelegen hat... Es kann gut sein, dass es splitterte und sich noch etwas von ihm in der Wunde befindet. Ich werde sie aufschneiden müssen, um sie gründlich zu säubern. Es wird leider sehr schmerzhaft sein.“
„Glauben Sie, dass es meine erste Verletzung ist? Gießen Sie mir Schnaps ein, und es wird gehen.“
Julie spitzte den Mund.
„So ist das also. Sie sind wohl ein ganz harter Kerl, hmm? Na fein. Dann können wir ja sofort anfangen. Monsieur Touvenant, Ihr Patient kann es kaum erwarten.“
Julie ergriff die Schnapsflasche, die Racan gerade hereingebracht hatte und hob sie an François Lippen. Er nahm einen großen Schluck, verschluckte sich und hustete, vorsichtig darauf bedacht, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Sie hielt seinen Kopf. Dann zog sie ein Tuch aus ihrem Mieder, tauchte es in den Krug und legte es auf François Stirn.
Julie holte sich einen Hocker, der in einer Ecke stand. Sie setzte sich so, dass sie François Gesicht sah und ihm den Blick auf den Chirurgen versperrte, nahm seine Hand fest in die ihre und nickte. Monsieur Touvenant setzte das Messer an.
Minutenlang war nichts zu hören außer dem Knacken der Scheite im Kamin, François schwerem Atem und dem Brummen des Chirurgen.
Julie drückte die kräftige, schwielige Hand. François hatte die Augen geschlossen, doch nach einiger Zeit merkte sie, dass er ihren Druck erwiderte. Ihr Blick hing an seinem Gesicht und bekam jede Zuckung mit. Sie biss sich auf die Lippen. Nein, ihre Auseinandersetzung vor drei Tagen, die Enttäuschung, die ihr Herz zerrissen hatte, hatten dem Gefühl, das sie immer noch für ihn hegte, nichts anhaben können.
Sie liebte ihn.
Ja, sie liebte ihn! Diese Erkenntnis, die sie noch nie in Worte gefasst hatte, traf sie wie ein Schlag. (...)
Das war sie also, die Liebe...
Es war nicht die beginnende Zuneigung, die sie für Frederik gespürt hatte, sondern etwas Wildes, Beängstigendes, Absolutes.
Und dieses Gefühl übte eine solche Macht auf sie aus, dass sie heute hier saß, obwohl sie vor drei Tagen bereit gewesen wäre zu sterben, nachdem François sie verschmäht hatte
Tränen stiegen in ihre Augen. Es überfiel sie der Drang, diese Hand loszulassen und wegzulaufen, zu fliehen so weit sie ihre Beine tragen würden. Wenn die Liebe bedeutete, dass sie ihre ureigensten Prinzipien und Werte vergaß, dann wollte sie nicht lieben! Sie erbebte, löste den Druck ihrer Finger – da griff François Hand nach ihr. Er öffnete die Augen. Und das, was sie jetzt dort las, weil die Beherrschung der Schmerzen alle Kräfte aufzehrte, die er sonst zur Tarnung seiner Gedanken gebrauchte, ließ sie den Atem anhalten. Ob es noch Hoffnung gab?...

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„Sie baten um eine Unterredung, Madame?“
Die Comtesse machte eine kleine, steife Verbeugung, die wohl als Zustimmung interpretiert werden konnte, kam dann langsam ein paar Schritte näher.
Richelieu winkte sie heran, wies auf einen schmalen Sessel. Er war neugierig, denn sie hatten sich seit dem Drama in eben diesem Zimmer nicht mehr gesehen, und mit ihrem Erscheinen schien auch die Szene wieder lebendig zu werden, die sich hier abgespielt hatte.
Sie zögerte kurz, ließ sich vorsichtig auf die Sitzfläche gleiten. Er sah sie prüfend an.
Er bemerkte ihre langsamen, tastenden Bewegungen. Sie musste noch an den Nachwehen ihres Sturzes leiden... wenn es wirklich angebrochene Rippen waren, wie der Arzt, den er ihr geschickt hatte, erklärt hatte, so war auch nicht zu erwarten, dass sie innerhalb von etwas mehr als einer Woche heilten.
Sie wirkte beherrscht in ihrem schmal geschnittenen, dunkelgrünen Kleid, das nur von ein wenig elfenbeinfarbener Seide erhellt wurde, die aus den Ärmelschlitzen und dem Unterrock hervorschaute. Ihren Gesichtsausdruck konnte er nicht erkennen, da ihre Züge von einem leichten Schleier verhüllt wurden. Sie drehte, noch immer wortlos, ihren Kopf in Richtung der zwei stets eifrigen Sekretäre.
Er beschloss, ihr den Gefallen zu tun.
„Charpentier, Le Masle, lassen Sie uns einen Moment alleine.“
Sie verfolgte mit schräg gestelltem Kopf, wie die beiden Männer den Raum verließen.
„Ich danke Ihnen, Monseigneur.“ Auch ihre Stimme klang beherrscht.
Er hatte die Ellenbogen auf die Armlehnen seines tiefen, mit Kissen ausgelegten Sessels abgestützt, die Fingerspitzen sternförmig aneinander an das Kinn gelehnt, intensiver Blick. Sie war ihm zur Gewohnheit geworden, diese Stellung, denn sie beunruhigte die meisten seiner Gesprächspartner. Die meisten. Nicht alle.
„Ich habe Sie um eine Unterredung gebeten, um mich von Ihnen zu verabschieden, Eminenz.“
Der Augenblick war also gekommen. Er bewegte sich nicht.
„Sie wollen Rueil verlassen?“
„Ja. Meine Anwesenheit hier ist nicht mehr schicklich.“
Sie sagte es tonlos. Doch er wusste sofort, was sie ansprach. Es ging nicht um die Meinung einer nicht präsenten Öffentlichkeit... Es ging einzig und alleine darum, dass der Comte de FontesVillaray nicht erfahren sollte, dass sie nach dem Streit noch Wochen oder Monate unter seinem Dach verbracht hatte. Sie liebte diesen Mann ungebrochen.
„Ich verstehe. Wohin wollen Sie? Zurück nach England? Das dürfte sich als schwierig erweisen.“
Sie schüttelte ein wenig das Haupt.
„Nach Paris. Wieder zu meinen Tanten, wenn es mir gelingt, in die Stadt zu kommen.“ Der Schleier bewegte sich leicht im Rhythmus ihrer Worte. „Ich hoffe, die Einreisenden werden nicht so gründlich kontrolliert wie die Ausreisenden, und ich bleibe unerkannt.“
„Und wenn nicht?“
Sie deutete ein Schulterzucken an, fuhr leicht zusammen, atmete langsam aus.
„Es liegt in Gottes Hand.“
Sie wollte ihn suchen... Und war bereit, dafür alle Konsequenzen zu tragen.
Gut. Sie hatte Recht. Es war an der Zeit.
„Warten Sie hier einen Augenblick, Madame.“
Er erhob sich, ging zur Tür und entfernte sich, um das Kuvert zu holen. Als er wieder hereinkam, hatte sie sich nicht gerührt. Er reichte ihr das versiegelte Papier, nahm wieder Platz.
Es fiel ihm auf, dass sie es nicht fragend zwischen ihren Hände umdrehte, wie es wohl jeder andere Mensch, wie sie es wohl auch früher getan hätte. Nein, sie nahm einfach das Papier entgegen, durchbrach das Siegel und las die wenigen, autoritären Zeilen, die Aufhebung ihres Haftbefehls. Doch dann verriet sie doch ihre innere Bewegung. Sie hob langsam ihren Schleier, und ihre Augen wanderten abermals über das Schriftstück.
Stumm entdeckte er die bereits abklingenden Folgen des Dramas. Ihr linkes Auge war leicht geschwollen, seine Umgebung in einem hellen Grünton. Die Wange wies noch dunklere Spuren auf – ein grünliches, fleckiges Violett. Ein Riss lief rot aus ihrem Mundwinkel bis in die sehr helle Haut.
„Das Datum dieses Briefes weist drei Monate zurück...“ Sie blickte auf und begegnete seinem Blick. Sie errötete, ließ den Schleier schnell wieder über ihr Gesicht fallen.
Richelieu dachte an die letzten Wochen zurück. Erst war der Maler nicht fertig gewesen und hatte sein Modell gebraucht. Der Künstler hatte sie geraume Zeit insgeheim beobachtet. Und dann war das Bild vollendet worden. Und dann...
„Ja.“
Die Comtesse schwieg. Dann richtete sie sich etwas auf.
„Gut. Ich werde mit ruhigerem Herzen reisen.“
„Ich stelle Ihnen eine der Kutschen zur Verfügung.“
Sie faltete das Papier sorgfältig zusammen. Ihre Stimme klang warm.
„Ich danke Ihnen, Eminenz. Sie sind immer sehr großzügig gewesen. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.“
Er konnte nicht verhindern, seine Überraschung durch eine kleine Bewegung zu verraten. Nicht ein Wort des Vorwurfs, nicht ein Verlangen nach einer Erklärung. Er nickte leicht.
Doch sie stand nicht auf. Er sah, wie sich ihre Brust bewegte.
„Monseigneur... Würden Sie mir bitte sagen, ob Sie etwas gegen den Comte unternommen haben?“
„Ich lasse ihn von meinen Leuten suchen, Madame,“ antwortete er glatt.
„Was... Was genau wird ihm vorgeworfen?“
„Eine Lappalie, Madame. Nur ein Anschlag auf die Person des Kardinals de Richelieu.“

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Eine Gestalt warf ihren Schatten auf die Versammelten, als sie im Trab an der langsamen Kolonne vorbei ritt.
Julie wand schnell den Kopf ab, zupfte an den Seitenflügeln ihrer Haube, während Robert sich duckte. Doch John Glenstair schenkte den Gefangenen keinen Blick, sondern richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf das Geschehen vor sich.
Es gab keine Reaktion im Fort... Jedenfalls keine offizielle.
Der Trompeter brach ab, stellte sich neben seinen Kapitän, der ein wenig seitlich Stellung bezogen hatte. John machte ein Handzeichen.
Julie sah beim Laufen an den Mauern hoch. Ihr Herz pochte in ihrer Brust, als ihr Blick über die dunklen Köpfe glitt, die auf sie hinabschauten.
François war irgendwo da oben, das wusste sie. Und egal, was sie erwartete, egal, was passierte, dieses war ihr Weg. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, voller innerer Ruhe, legte Schritt für Schritt die Entfernung zurück, die sie noch von ihm trennte. Die Zeit der Fragen, der Ungewissheit, der Zerrissenheit war vorüber.
Inzwischen drängten die Soldaten hinten ein letztes Mal auf die nur zögernd voranschreitenden Frauen und Kinder ein. Diese versuchten, den Stockschlägen zu entkommen, schoben, schrien... Bald wurde in den letzten Reihen geschubst und gerangelt, Kinder fielen auf den Boden, wurden von ihren Müttern wieder aufgestellt.
Die englischen Soldaten blieben stehen, um nicht in Schussweite der französischen Musketen zu geraten. Die Frauen, weinend und außer Atem, liefen langsam weiter, warfen verängstigte Blicke hinter sich.
Bald waren sie fast an dem Falltor angelangt. Doch nichts tat sich. Keine Bewegung verriet, dass das Tor geöffnet würde.
Eine eng von Soldaten umringte Gestalt beugte sich über die Brüstung. Toiras. Die Stimme des Gouverneurs war barsch vor unterdrückten Gefühlen.
„Kehrt um, ihr Frauen! Wir können euch nicht aufnehmen! Hier ist weder Nahrung noch Platz für euch!“
Das erregte Gemurmel der Männer im Fort drang bis unten durch. Die Frauen schrien auf, ihre weißen Hauben pendelten zwischen beiden Fronten hin und her. Eine stämmige Frau mit roten Zöpfen warf den Kopf in den Nacken und rief empört hinauf:
„Lasst uns herein! Die haben gesagt, die bringen uns um, wenn ihr uns nicht einlasst! Wie könnt ihr uns hier stehen lassen? Es sind eure Kinder!“
„Es geht einfach nicht! Die Vorräte werden jetzt schon knapp! Die Kinder würden hier nur verhungern! Geht zurück!“
Die Frauen traten unentschlossen von einem Fuß auf den anderen, redeten aufgeregt miteinander, warfen den in einiger Entfernung aufgestellten Engländern abschätzende Blicke zu.
„Na, wenigstens haben wir es versucht!“ Die rothaarige Frau, die eben schon gesprochen hatte, zuckte mit den Schultern und winkte ihre Gefährtinnen in Richtung Dorf. „Hier übernachten können wir nicht, oder? Das sind doch auch keine Unmenschen! Die werden uns schon nichts tun...“
Julie konnte es nicht fassen. Die Gruppe machte kehrt!
Sie schloss die Fäuste. Nein, sie wollte hier bleiben! Sie sollten ihr verdammtes Tor aufmachen!
„Madame Julie, Sie können hier nicht stehen bleiben... Wir müssen zurück!“ Robert packte sie am Handgelenk und zog sie mit sich. Sie wehrte sich verbissen, entschlossen, auf jeden Fall hier zu bleiben, doch sie konnte gegen die feste Umklammerung nichts ausrichten. Sie stolperte hinter Robert her, schimpfte auf den Jungen, der inzwischen wirklich über erstaunliche Kräfte verfügte und sich ihr heute schon zum dritten Mal widersetzte.
Inzwischen waren die ersten Frauen erneut bei den englischen Linien angelangt. Da... Ein Kommando, Schüsse... Plötzlich brach Panik aus. Röcheln, Schmerzenslaute, gellende Frauenstimmen, Kinderschreie, erschrockene Rufe von der Festung... Frauen und Kinder liefen kurz hilflos im Kreis, bevor sie sich erneut wie ein Vogelschwarm in Richtung Fort stürzten.
Julie und Robert sahen sie auf sich zu rennen. Sie wurden angestoßen, fielen beide zu Boden. Julie entdeckte mit Entsetzen, dass ein Körper ein paar Schritte von ihr entfernt leblos im Staub lag. Es war die Frau, mit der sie ein Lächeln getauscht hatte. Sie lag seltsam verkrümmt da, eine ihrer Brüste hing aus ihrem offenen Ausschnitt. Ihr Kind saugte geräuschvoll die letzte Milch, während sich unter dem Oberkörper seiner Mutter eine Blutlache bildete.
„Kommen Sie... Wir müssen hier weg!“ Robert hatte sich schon wieder aufgerappelt, zog Julie ebenfalls auf die Beine. Sie sah hoch. Ja, es war höchste Zeit! Die englischen Soldaten rückten mit schussbereiten Waffen vor, und sie waren die Letzten. Julie keuchte, entwirrte ihre Röcke, strauchelte...
„Julie? Ja, ist es denn möglich? He, Sie da drüben... Julie... sind Sie es?“
Diese Stimme... Dieses manierierte Englisch...
Julie sah in noch geraumer Entfernung braune, ungläubige Augen, ein gutaussehendes Gesicht, in dem deutlich Überraschung und Anspannung zu lesen waren. Dann gab ihr Schwager seinem Pferd die Sporen.
„Weg... Schnell!“ Julie griff nach Roberts Hand, zog ihre Röcke hoch, hastete dem Tor entgegen. Sie lief, so schnell sie nur konnte. Alles, nur nicht John in die Hände fallen!
Als sie die anderen Frauen erreichte, war sie völlig außer Atem. Das verzweifelte Pochen der Frauenhände glich dem Klopfen ihres Herzens. Sie warf einen Blick zurück. Ja, dort drüben stand John, von den französischen Linien am Weiterreiten gehindert, sah ihr nach, und seine ganze Haltung drückte das grenzenlose Staunen aus, das er empfand. Er wartete auf sie... Und sie stand vor dem verriegelten Fort wie in einer Mausefalle.
Irgendwo über ihrem Kopf ertönte ein Befehl. Jubel wurden laut.
Julie hielt noch immer Roberts Hand fest, als der Junge brüllte:
„Schauen Sie, Mylady! Das Tor! Sie lassen uns ein!“
Und in der Tat wurde nun ein heiseres Quietschen hörbar. Das massive Tor hob sich behäbig, begleitet von dem Weinen und Segensrufen der Frauen.
Keuchend, schmutzig, mit wild pochendem Herzen drang Julie in die Festung.

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